Wohnt Gott jetzt im Netz?

Vor fast einem Jahr durfte ich die Fachtage Digitalisierung der Schulstiftung der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens mit vorbereiten und gestalten. Den Opener wähle ich als ersten Beitrag. Wenn ich schon immer über eine Kultur des Teilens rede, sollte ich es auch selbst tun. Für mich ist die Aufgabe: ein anderes Zeitmanagement. Irgendwie reicht die Zeit nie und so fallen zuerst immer die Dinge weg, die im aktuellen Tagesgeschehen gerade keine Priorität haben. Also beginne ich mit dem guten Vorsatz, regelmäßiger zu bloggen. Dieser Text, an dem ich ein Jahr später vieles anders schreiben würde, war für mich persönlich wichtig. Immer wieder hatten Menschen mich ermuntert. Du hast was zu sagen, also sag was. Das war der erste Versuch, und seither habe ich mich ziemlich freigeschwommen.

Wohnt Gott jetzt im Netz? 

Wie verbinden sich unsere Vorstellungen von Bildung und Pädagogik an evangelischen Schulen mit der Herausforderung an Schule im digitalen Zeitalter? 

Spätestens dann, wenn er von der freundlichen Sprechstundenhilfe aufgefordert wird, seinen nächsten Arzttermin doch online über das Buchungsportal des Gesundheitszentrums zu ordern, merkt es auch der Letzte: die Mediatisierung ist in unserer Gesellschaft nicht einfach nur angekommen. Sie verändert sie. Und wenn die ganze Welt in Veränderung begriffen ist, dann wirkt das auch auf das System Schule, ob wir wollen oder nicht. Damit soll sich dieser einführende Vortrag in einem groben Überblick beschäftigen. Mit den Veränderungen, die die Mediatisierung der Gesellschaft auf unser Leben, unser Bild von der Welt, auf unsere Beziehungen zu uns selbst und zu Gott hat. Mit einem Blick auf Chancen, aber auch auf Risiken und Nebenwirkungen. Schule als Teil dieser Welt hat die Aufgabe, Schülerinnen und Schülern Kompetenzen zu vermitteln, um in dieser Welt einmal selbstbestimmt ein gelingendes Leben zu führen. Also kann auch Schule nicht bleiben, wie sie bisher war. Sie wissen das längst, deshalb sind Sie der Einladung der Schulstiftung gefolgt, trotz all der anderen alltäglichen Aufgaben. Schön, dass Sie gekommen sind.

Sehr geehrte Damen und Herren, 
liebe Kolleginnen und Kollegen,

wenn von den Veränderungen der Gesellschaft durch die Mediatisierung die Rede ist, dann scheinen sich zwei Lager unversöhnlich gegenüberzustehen. 

Das eine befindet sich in einer Endzeitstimmung, prophezeit die Rückbildung der menschlichen Intelligenz, den Untergang der Kultur und den Verlust der personalen Identität des einzelnen Individuums angesichts von Reizüberflutung, Filterblasen und einer Automatisierung aller Lebensvollzüge. Denken wird durch Googeln, Individualität und Meinung durch Schwarmintelligenz, zwischenmenschliche Beziehung durch Gespräche mit künstlichen Intelligenzen ersetzt. Lese- und Schreibfähigkeit geht verloren, die Feinmotorik beschränkt sich auf das Beherrschen der Smartphonetastatur, also auf die Daumen,

und den Wert eines Menschen bei der Kreditvergabe, dem Wettbewerb um einen Arbeitsplatz und der ebenfalls digitalen Partnervermittlung bestimmt ein Scoring-Wert, der präzise aus unserem digitalen Fingerabdruck ermittelt werden kann. 

Aus dieser Sicht ist Gott angesichts der Mediatisierung ohnmächtig, weil es das Individuum, das in lebendiger personaler Beziehung zu Gott und dem Nächsten steht, gar nicht mehr gibt. 

Den Untergangspropheten gegenüber steht die Front der Netzeuphoriker. Deren Idee war ja ursprünglich – weitab von irgendwelchen Konzerninteressen von Google, Facebook und Amazon, den Giganten, die heute Unsummen an unseren Daten verdienen und ihre Algorithmen einfach alles auswerten lassen, was sie finden – [TH1] der Gedanke, 

alles Wissen der Welt

überall auf der Welt 

jedem Menschen der Welt verfügbar zu machen. 

Ein urdemokratischer Gedanke zunächst, der die Vision einschloss, dass jeder Mensch gleichermaßen die Chance haben sollte, sein Wissen, seine Ideen, seine Erfahrungen und Meinungen in dieses Weltwissen einfließen zu lassen. Barrieren durch unterschiedliche Sprachen beispielsweise werden ebenso überwunden, wie solche, die durch körperliche Einschränkungen entstehen: dem Blinden wird vorgelesen, wer nicht schreiben kann, nutzt die Spracheingabe. Datenschutz ist in dieser Sichtweise ebenso wie das Urheberrecht im Übrigen ein Vergehen an der Menschheit – Wissen soll schließlich allen gehören, und außerdem habe ich nichts zu verbergen. Gott in dieser radikalen Denkweise wird überflüssig. Endlich kann der Mensch vom Baum der absoluten Erkenntnis essen, ohne dafür bestraft zu werden. 

Wenn das letzte Geheimnis gelüftet ist, wenn ich den anderen und die Welt als Mensch so sehen kann, wie Gott den Einzelnen und die Schöpfung sieht, brauchen wir Gott nicht mehr. 

Auf einer gedachten Linie zwischen den beiden Polen bezieht jeder eine Position, bewusst oder unbeabsichtigt. Auch Schule tut das in der Art und Weise, wie sie mit der Mediatisierung in ihren Mauern umgeht. 

Was nehmen wir wahr, was blenden wir aus?

Steht die nicht funktionierende WLAN-Verbindung im Mittelpunkt unserer Gedanken, weil sie das Zeigen eines Videos verhindert, das durch schnelle Bildfolge und auditive Untermalung das mühsame Erarbeiten eines Lehrbuchtextes erspart, dabei noch eingängiger ist und so das Vermitteln der Inhalte effektiviert? Sehen wir uns in Konkurrenz zur reizstarken Unterhaltungsindustrie und so in der Pflicht, den Unterhaltungswert unserer Unterrichtseinheiten zu erhöhen, um desinteressierte Schülerinnen und Schüler an unser Programm zu binden, also zu motivieren? Manifestiert sich Digitalisierung für uns in der mühelosen Leichtigkeit, die uns die Schulverwaltungssoftware vermittelt, weil sie uns die lästige Mühe des Unterschriften Kontrollierens und Durchschnitte Berechnens abnimmt?

Alles wichtig, alles unter Fortschritt zu verbuchen. 

Für evangelische Schulen, die sich der Verantwortung stellen, die Schülerinnen und Schüler als lebenstaugliche Mitgestalter unserer Demokratie zu entlassen, aber vielleicht nicht ganz ausreichend. Beinah ebenso wenig, wie der ehrenvolle Versuch nicht weniger unserer Schulen, die virtuelle Welt in Gestalt von Smartphone und Internet aus den Klassenzimmern und Köpfen so gut es geht zu verbannen und sich unter Berufung auf klassische Werte der Einsicht zu verweigern, dass Kindheit und Lebenswirklichkeit heute völlig andere sind als vor 20 Jahren. 

Wenn wir über die Frage nachdenken, wie die Mediatisierung das Lehren und Lernen an einer evangelischen Schule verändert, dann sollte uns zunächst, wie zu Beginn schon angedeutet, die Frage interessieren, was Gott eigentlich mit dieser Mediatisierung zu tun hat. 

Wir müssen uns dazu nicht in die Nebensätze der Bibel vergraben. Unsere christliche Religion präsentiert sich von der ersten bis zur letzten Bibelseite als eine medial vermittelte Religion. 

Konzentrieren wir uns einmal auf Paulus, der uns mit seinem Leben und Wirken vor Augen führt, warum das Internet – in welcher Erscheinungsform auch immer – weder Freund noch Feind, sondern das natürliche Medium für unsere Botschaften ist, dessen wir uns in einer globalisierten Welt intelligent zu bedienen haben, wollen wir unsere Werte, unseren Glauben Kindern, Jugendlichen, Menschen aller Generationen als Sinnorientierung zwischen den verschiedensten Religionen, Ideologien, Utopien und Dystopien anbieten. 

Was tut Paulus? 

Internet und Telefon hat er noch nicht, also reist er dorthin, wo er Menschen weiß, die nach Orientierung in einer Welt voller Widersprüche suchen. Dort angekommen, sucht er sich Verbündete für seine Ideen, er beginnt, überall Netzwerke zu knüpfen, ganz ähnlich wie wir das heute bei Facebook und Xing und unsere Kinder bei Instagram tun. Nur so kann er sicherstellen, dass seine Botschaften virtuell weiterleben, wenn er physisch längst am nächsten Ort angekommen ist. Und dann geht er zu den Menschen, dorthin, wo die Fragen sind. In die Synagogen, auf Marktplätze, in die Häuser. Paulus pflegt seine Netzwerke mit den modernsten Kommunikationsmitteln seiner Zeit, den Briefen. Es ist fraglich, ob das Christentum sich derart erfolgreich ausgebreitet hätte, wenn Paulus, der Netzwerker, sich nicht so in die Öffentlichkeit gestellt hätte, im Übrigen, obwohl Paulus sich seiner eigenen Unvollkommenheit stets bewusst war. Paulus setzte sich dieser Öffentlichkeit wieder und wieder aus, er stellte sich Konflikten innerhalb der neu gegründeten Gemeinden, mit alten Traditionen heidnischen und jüdischen Ursprungs, predigte von Hoffnung und Erlösung. 

Menschen wie Paulus braucht unsere lebendige Demokratie.

Menschen, die sich zeigen, die den gehämmerten Hauptsätzen aus Engstirnigkeit und Verachtung, die uns aus Kommentarspalten und sozialen Netzen entgegenschlagen, selbstbewusst das Aber des eigenen, nachdenklichen Ichs entgegenstellen. Menschen, die fragen und abwägen und trösten und so eine Spur legen zu Gott.

In einer Zeit am Abgrund, in der wir uns wie Paulus zu befinden scheinen, in der apokaplyptische Vorstellungen vom Weltende und Verschwörungstheorien auf der einen, rücksichtsloser Individualismus und Gleichgültigkeit auf der anderen Seite die virtuellen und analogen Stammtische bevölkern, in der aber auch erstmalig jeder einzelne Mensch überhaupt die Chance hat, an die Öffentlichkeit zu treten und wahrgenommen zu werden, könnte es lebensentscheidend für die Demokratie sein, dass unsere Schülerinnen und Schüler es lernen und Spaß daran finden, sich einzumischen. 

Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein,

heißt es beim Propheten Jesaja im 43. Kapitel. Gott hat jeden von uns als einzigartiges Individuum und zugleich als Beziehungswesen geschaffen, und er übergab uns Verantwortung für uns selbst, für den Nächsten und die Welt. Wir können das im 1. Schöpfungsbericht nachlesen. Wir werden in einer intakten Beziehung zu Gott in die Welt geschickt, ausgestattet mit Talenten und Eigenschaften, die uns einzigartig und wertvoll machen. Dafür, unser Leben in intakten Beziehungen zur Welt und zu Gott zu gestalten, sind wir jedoch selbst verantwortlich. Wenn sich gelingendes Leben in intakten Beziehungen zu uns selbst, zu den Menschen um uns herum, zur Welt insgesamt und zu Gott manifestiert, befinden wir uns beständig in einem Spannungsfeld von Konstruktion und Destruktion. Wir orientieren uns um und neu, immer auf der Suche nach der Antwort auf die Frage nach dem tieferen Sinn unserer Existenz. Ganz besonders intensiv ist diese Suche bei Jugendlichen. 

Wer bin ich und was will ich hier? 

Um das herauszufinden, nutzen Jugendliche jeden sich bietenden Resonanzraum – in der Regel außerhalb von Elternhaus und Unterricht, so, wie es übrigens schon der 12-jährige Jesus im Lukasevangelium getan hat, der ganz bewusst nicht dem üblichen Weg der Eltern gefolgt ist und nach dem Passahfest einfach im Tempel blieb. Das ist nicht neu. Schon immer fanden Jugendliche in Sportvereinen und Konzertarenen, auf dem Schulhof und in Büchern, manchmal vielleicht sogar in einem Lehrer oder einer Lehrerin personale Gegenüber, an denen sie sich orientierten, deren Werte sie übernahmen, deren Urteil sie sich gewollt oder ungewollt aussetzten. Schon immer gab es heimliche Mutproben im Steinbruch und Ausgrenzung, wenn jemand dem gängigen Mode- oder Verhaltenstrend nicht folgen konnte oder wollte. Aber immer waren es Menschen, deren Urteil man sich aussetzte, an denen man seine Wertvorstellungen schärfte, mit deren Hilfe man gut und schlecht, richtig und falsch, schön und hässlich auseinanderzuhalten versuchte. Der Raum, in den sie sich aber stellen, wenn sie sich im Internet bewegen, ist nicht mehr nur der Raum ihrer unmittelbaren – analogen – Beziehungen, sondern ein öffentlicher: Unsere Kinder und Jugendlichen stellen ihr Bild, ihre Meinung, ihre Biografie in einen öffentlichen Raum und erwarten ein Urteil. Anerkennung oder Ablehnung, Antworten oder neue Fragen. Damit setzen sie sich zugleich auch dem permanenten Risiko aus, durch eine anonyme Instanz, nennen wir sie vorläufig „Internet“, verletzt zu werden, und zwar nicht nur, weil ihre Handlungen und Meinungen dem Mainstream der Netzgemeinde missfallen, sondern auch als Mensch als ganzer; ein Urteil, das bislang Gott und dem Letzten Gericht vorbehalten war. Das anonyme Internet schafft Bewertungsmaßstäbe, nach denen unser Leben als gelingend oder nicht gelingend eingestuft wird. Scoring-Listen und Diäten, Reiseblogs und YouTube-Channels wie Bibis Beautypalace (5,6 Mio. Abonnenten) oder Gronkh (4,8 Mio Abonnenten) weisen gerade unseren Jugendlichen ihren Platz auf einer Ranking-Liste zu, und weil wir den Menschen oder die Institution dahinter nur schwer ausmachen, entsteht eine gottgleiche Instanz. Wir können sie nur dann entzaubern, wenn wir selbst in der Lage sind, ihren personalen Hintergrund zu erkennen – die anonyme Instanz also beim Namen zu nennen – und unseren Kindern zeigen – am besten durch selbst gemachte Erfahrungen – wie die Inhalte im Netz entstehen, wie sie verbreitet und verändert werden und wie auch hinter scheinbar gottgleichen und bewusst anonymen Resonanzkörpern immer Menschen stehen, die letztlich – wie jeder von uns – ihre eigenen Interessen verfolgen. Und das geht nur, wenn wir differenzieren statt zu pauschalisieren und wenn wir auch unsere eigenen jahrzehntelangen Ansichten auf den Prüfstand stellen. Bei der emotional geführten Diskussion um Artikel 13 etwa, in dem Jugendliche dank der YouTube-Propaganda und mangels Zusammenhangswissen lediglich den Versuch engstirniger Erwachsener sehen, ihnen ihr liebstes Medium und die wichtigste Freizeitbeschäftigung wegzunehmen. 

Besonders dicht an der Frage, ob Gott, der richtende, strafende Gott, der uns als einziger wirklich kennt, der uns Halt und Orientierung gibt, jetzt im Netz wohnt, ist die Pro Ana- und Pro Mia-Bewegung, die vermutlich in den meisten auch christlichen Schulen präsent ist, oft ohne dass wir davon wissen. Ich wurde damit erstmalig vor einem Jahr durch die Informatik-Abschlussarbeit einer Schülerin konfrontiert. 

Angeheizt von „Ana“, der unverfügbaren und zugleich in Foren, Blogs und schwer zugänglichen WhatsApp-Gruppen immer präsenten „Göttin“, ihrem in Briefform formulierten Zuspruch und ihren unflätigen Beschimpfungen reduzieren die Mädchen radikal ihre Kalorienzufuhr, treiben dazu exzessiv Sport, lösen die Beziehungen zu Freunden und der Familie. Sie dienen nur noch ihrer Göttin, die sie lobt und peinigt, und sie folgen ihr bis in den Tod. 

Auf der anderen Seite finden die Jugendlichen bei Instagram und YouTube aber auch eine antwortende Netz-Welt, ein Gegenüber, das die Erzväterzusage: „Ich bin bei dir und beschütze dich auf allen Wegen“ in ein neues Licht rückt. Das Netz bietet tatsächliche Chancen auf Antworten, wo die analogen Beziehungen fehlen oder versagen. 

Wenn wir einmal annehmen, dass Gott auch im Netz wohnt, sofern wir ihn daraus nicht vertreiben, dann bietet das Netz in einem positiven Sinne unendliche Chancen, Gott wirken zu lassen.

Die gerade gezeigten Einblicke werfen nur Spots auf das weitaus vielschichtigere Phänomen der Aktion und Interaktion insbesondere von Kindern und Jugendlichen im Netz. Viele von ihnen bewegen sich dort wie Geisterfahrer auf der Autobahn mit überhöhter Geschwindigkeit und ohne Führerschein.

Schon immer haben christliche Schulen den Ansatz vertreten, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Persönlichkeit so zu stärken, dass sie den Anforderungen des Lebens gewachsen sind und zugleich mit wachen, besorgten Augen auf den Nächsten blicken. Für die virtuelle Welt brauchen sie ganz ähnliche und doch völlig andere Instrumentarien, um Fake von Wahrheit zu unterscheiden, Manipulationen zu erkennen, die Algorithmen zu durchschauen und nutzbar zu machen, die Macht der Bilder zu erkennen und schließlich nachzuempfinden, wie Drohungen und Hass einen Menschen zerstören können, auch wenn sie nur Ausdruck der eigenen Frustration sind. 

Die religions- und medienpädagogische Forschung liefert hier ausgehend von der vor zwei Jahren veröffentlichten Schamethik des Theologen Klaas Huizing erste nützliche Ansätze. 

Eine das Internet einschließende Identitätsarbeit im Religionsunterricht beispielsweise könnte dazu dienen, dem Einzelnen einen Schutzraum zu schaffen, der einerseits ihn selbst schützt, ihm andererseits aber auch das scheinbar anonyme Gegenüber im Netz als schützenswerten Einzelnen präsentiert: Das Schützenswerte an meinem Ich ist – unabhängig von dem, was ich sehe oder preisgebe – nur für Gott verfügbar. Dabei verhindert bewusst zur Sprache gebrachte Scham als Doppelbewegung aus Sich-Zeigen und Sich-Verbergen nicht, dass unsere Schülerinnen und Schüler sich im Netz präsentieren, sie knebelt nicht ihre Suche nach Antworten, aber sie schützt das Individuum selbst und andere Akteure. 

Nur Gott muss ich mich als Mensch aussetzen, anderen Menschen immer nur als Handelnder und in einem direkten Beziehungsgeschehen. Womit wir noch einmal bei Paulus wären, dem grandiosen Meister des Sich-Zeigens und Sich-Verbergens, von dem unsere Schülerinnen und Schüler lernen können, das private und das öffentliche Ich strikt voneinander zu trennen. 

Der Paulus in seinen Briefen und selbst der Paulus in der Apostelgeschichte ist nichts anderes als eine inszenierte öffentliche Figur. 

Verglichen mit dem Menschen Paulus ist das ganz sicher keine Lüge. Die Figur ist so authentisch, wie sie nur sein kann. Aber das ganze, das private Ich des Paulus, das hält er geschickt verborgen, weil es nur Gott und ihn selbst, vielleicht noch nahe Freunde und Verwandte etwas angeht. Damit ist der Apostel Paulus, sein Wort und sein Handeln, in der Öffentlichkeit angreifbar. Der Mensch Paulus mit seinen Träumen und Ängsten ist es nicht. 

Wenn ich mit meinen Schülerinnen und Schülern im Deutschunterricht Audios, Videos oder Fotos produziere, verlassen diese in aller Regel das Klassenzimmer nicht, ich produziere schließlich keine Werbevideos für die Schule und auch kein didaktisches Material für nachfolgende Schülergenerationen. Es geht vielmehr – neben den ganz unterschiedlichen Inhalten und vielen anderen Zielen – darum, dass die Kinder und Jugendlichen sich selbst und ihre Mitschüler in der Öffentlichkeit ihres medialen Produkts wahrnehmen:

Wie wirke ich in dieser Rolle? Wie sehen mich die anderen? Wie viel von mir steckt in dem, was ich hier zeige? Und was schließlich hat der literarische Stoff, um den es eigentlich geht, heute noch mit mir und meiner Lebenswirklichkeit zu tun? Wie nehme ich Stellung in der Art und Weise, in der ich die Rolle verkörpere?

Die Schülerinnen und Schüler üben, in der Bewertung den Fokus weg von der Bewertung des Menschen, den sie mehr oder weniger mögen, auf das dargestellte Bild zu legen. Alles Fähigkeiten, die sie in der Auseinandersetzung mit der täglichen Bilderflut dringend brauchen. Und ganz nebenbei beginnen sie, auch die verbalen und nonverbalen Äußerungen ihres angebeteten YouTube-Stars aus einer angemesseneren[TH2]  kritischen Distanz zu betrachten, wenn sie begreifen, wie leicht sich eindrucksvolle Bilder erzeugen lassen und wie wenig diese oft mit einer wie auch immer definierten Wirklichkeit übereinstimmen. Je besser es Schule gelingt, die erweiterten Erfahrungsräume, die die Mediatisierung unseren Schülerinnen und Schülern ohnehin bietet, produktiv zu nutzen, umso besser kann sie bei der Orientierung in diesen Erfahrungsräumen unterstützen und das Handeln der Schüler beeinflussen. 

Was „erweiterte Erfahrungsräume“ künftig hinsichtlich des Lernens bedeuten können, ist schon heute in vagen Grundzügen erkennbar. Bereits jetzt lässt VW seine Auszubildenden ihre Motoren zuerst virtuell zusammenbauen, bevor man sie an den teuren Einzelteilen herumschrauben lässt.

Bereits jetzt liefert die gleiche Augmented Reality die Möglichkeit, einen beliebigen Planeten mitten ins Klassenzimmer zu projizieren und genauestens zu erforschen oder – dank eines amerikanischen Projekts – einen direkten Dialog mit Hologrammen von Holocaust-Überlebenden zu führen.

„Aus dem Inneren eines Schweins“ zeigt uns per VR, wie gnadenlos wir Menschen mit der uns anvertrauten Schöpfung umgehen. Der religions- und medienpädagogische Lehrstuhl der Uni Würzburg forscht an Methoden, per Augmented und Virtual Reality spirituelle Erfahrungen im Unterricht auch außerhalb des Kirchenraums zu inszenieren. 

Dabei geht es nicht um den eingangs angesprochenen gesteigerten Unterhaltungswert,

sondern es geht darum, dass die Technik Erfahrungen ermöglicht, die bisher in dieser Form nicht möglich waren und die uns dabei helfen werden, uns selbst, die Prozesse in der Welt um uns herum, unsere Geschichte und fremde Kulturen besser zu verstehen. Die komplexen Probleme in Beruf und Alltag lösen keine[TH3]  Einzelkämpfer, und es macht immer weniger Sinn, Wissen einfach nur zu sammeln. An Bedeutung gewinnt stattdessen die Fähigkeit, Informationen (also Wissen) zu filtern, zu clustern, zu systematisieren, sich dazu zu positionieren und in der Interaktion mit anderen ein Problem zu lösen. 

Und das geht nicht ohne Technik.

In der Literatur, unter anderem bei Klaus Zierer (Lernen 4.0) kursiert das sogenannte SAMR-Modell, das recht eindrucksvoll Sinn und Unsinn eines stärkeren Technikeinsatzes im Unterricht auf den Punkt bringt. Der Showeffekt, den ein eher sporadischer Medieneinsatz zweifellos hat und der sich ganz sicher positiv auf die kurzfristige Motivation und Lernbereitschaft der Schülerinnen und Schüler auswirkt, bleibt dabei ausgeklammert, denn dieser wird sich spätestens dann verlieren, wenn der Neuigkeitswert schwindet und beispielsweise das Zeigen von Lernvideos zur Normalität wird. 

Was momentan noch die meisten Unterrichtsräume beherrscht, ist die Stufe der Substitution. Dabei wird ein „altes“ Medium schlicht durch ein „neues“ ersetzt. Statt der Erarbeitung eines Lehrbuchtextes wird ein Video gezeigt, das Tafelbild an der grünen Tafel durch das (vielleicht sogar vom Lehrbuchverlag mitgelieferte) Tafelbild am Whiteboard ausgetauscht. Möglicherweise ist das Video anschaulicher und es geht schneller, als den Lehrbuchtext zu erarbeiten. Andererseits kann der Lehrbuchtext aber mehrfach gelesen und es können Auszüge erstellt werden. Vorzüge und Nachteile heben sich weitgehend auf, im Grunde verändert sich der Unterricht selbst dadurch nicht. 

Die zweite Stufe wird mit Augmentation, also Erweiterung, bezeichnet. Der pädagogische Mehrwert ist auch hier überschaubar, denn wie bei der 1. Stufe bleiben die Unterrichtsform und die gestellten Aufgaben grundsätzlich bestehen. Mehrere traditionelle Medien werden zusammengefasst, wobei diese dank digitaler Verbindung zu schnelleren, vielleicht befriedigenderen Ergebnissen führen sollen. 

Es geht einfach schneller und das Ergebnis ist ausführlicher, wenn man Schreibung und Bedeutung eines Wortes mit dem Smartphone im Internet sucht, statt im Duden zu blättern. 

Richtig interessant wird es ab der dritten Ebene. Sie wird bezeichnet als „Modification – Änderung“. Digitalisierung wird eingesetzt, um Aufgaben in einer Art und Weise zu verändern, die mit traditionellen Medien nicht möglich wäre. 

Wird bei Versuchen im naturwissenschaftlichen Unterricht digital und vernetzt gearbeitet, kann der Arbeitsauftrag bereits digital zur Verfügung gestellt werden, das Protokoll schließt sich unmittelbar an und wird in der gleichen Datei angelegt. Während des Bearbeitens können Fotos der Materialien, der Versuchsanordnung und der Ergebnisse hinzugefügt werden. Das Ergebnis kann per Cloud allen Gruppenmitgliedern zur Verfügung gestellt werden. Anhand der Bilder und Protokolle, die dank digitaler Verfügbarkeit nun auch an die Wand projiziert werden können, lassen sich Abweichungen und unterschiedliche Ergebnisse gut vergleichen und ein nachhaltigerer Lerneffekt entsteht. Durch die Bilder ist die Versuchsanordnung später jederzeit wieder nachvollziehbar. 

Auf der vierten Ebene der „Redefinition“ entstehen neue, oft komplexe Aufgabentypen, die nur in vernetzten Strukturen lösbar sind. Wir Lehrerinnen und Lehrer sind dabei nicht mehr in erster Linie Wissensvermittler, sondern Lernbegleiter, die die Schüler bei der Suche nach ihrem Lernweg unterstützen. Ziel eines solchen komplexen Lernprozesses ist meist ein Produkt, das die Erkenntnisse, die die Schüler bei der Arbeit daran gewonnen haben, zusammenfasst. Bearbeiten wir beispielsweise im Geschichtsunterricht eine bestimmte Epoche, kann im Frontalunterricht in der Regel nur Faktenwissen vermittelt werden. Die Menschen hinter den Fakten bleiben uns fremd, die Epoche selbst betrifft die Schülerinnen und Schüler nicht und die Namen von markanter Persönlichkeiten sind nichts anderes als kaltes Merkwissen. Wir können den Schülern aber die Aufgabe geben, nach einem Überblick in Gruppen bestimmte Aspekte der Epoche zu erforschen und anschließend beispielsweise in Snapstories zu verarbeiten. Snaps sind kurze 10-Sekunden-Clips, die aus beliebigen Elementen bestehen können: Bildern, eingeblendeten Begriffen, Mini-Szenen bspw. in Stop-Motion-Technik usw. Eine festzulegende Anzahl dieser Snaps wird zu einer Snapstory zusammengefasst. Um termingerecht fertig zu werden, müssen die Gruppen ihren Arbeitsprozess strukturieren, durch forschendes Lernen Informationen sammeln und überprüfen, Verständnisfragen klären und überlegen, wie sie die Informationen kreativ und präzise verarbeiten. Schon die Themenauswahl erfolgt interessensorientiert, und die Arbeitsteilung innerhalb der Gruppe nutzt die Stärken jedes Gruppenmitgliedes. Irrwege und Umwege erhöhen dabei durchaus den Lernerfolg, fördern die Fähigkeit, Probleme kreativ zu lösen, und die Teamfähigkeit. Der Wissenserwerb ist intensiver und nachhaltiger, die Schüler erarbeiten sich oft Spezialwissen, das sie auch in anderen Zusammenhängen zu Experten macht. Andererseits profitieren sie aber auch von der Arbeit der anderen Gruppen, die ihnen auf der Lernplattform der Schule zur Verfügung gestellt wird. Und schließlich: Geschichte wird lebendig, die Schüler erfahren sie als Teil ihrer eigenen Vergangenheit. 

Die reformpädagogischen, handlungsorientierten Ansätze, die in vielen evangelischen Schulen zum Schulprofil gehören, können durch die digitalen Medien auf eine neue Stufe gehoben werden. Auf einer Schulplattform bereitgestelltes Unterrichtsmaterial sowie Übungsmaterial zum Selbstlernen ermöglicht nicht nur selbstgesteuertes Lernen, sondern auch ständige Differenzierung und Individualisierung. Dabei werden die Schülerinnen und Schüler durchaus in die Produktion dieser Materialien einbezogen: Beim Erstellen von Lernvideos beispielsweise oder Quizzen als Vorbereitung auf eine Arbeit. Frei wählbare Lernwege ermöglichen es tatsächlich, an Talente und Stärken anzuknüpfen, weil in einem Team alle diese Talente und Stärken wertvoll sind und weil jeder so auf seine Weise lernen kann, ohne sich vordergründig mit seinen Defiziten abzumühen. Der Weg ist das Ziel, der Prozess der Erkenntnisgewinnung nützlicher als das Pauken von genormtem Einheitswissen, das unmittelbar nach der Klassenarbeit der nächsten Einheit Platz machen muss. Dazu braucht es aber Mut und Vertrauen in die Schüler. Es ist unbedingt notwendig, Räume und Gelegenheiten zu schaffen, in denen Lehrerinnen und Lehrer Möglichkeiten kennen- und nutzenlernen, ihren Unterricht zu verändern und Hemmschwellen abzubauen. Aber wir sollten uns gegenseitig auch Mut machen, Lücken zuzulassen. Wir müssen nicht jedes Produkt unserer Schülerinnen und Schüler zuerst zu Hause vorproduzieren, jedes Schlupfloch schließen, jede Panne vermeiden. Es gibt Situationen, in denen ist es gut, wenn Schüler selbst zu Experten werden, die auch wir um Rat fragen. Es ist gut, wenn manchmal Fotos auf den Schultablets landen, die eigentlich gar nicht gemacht werden dürften, weil so Gesprächsanlässe entstehen, Probleme, die auf eine Lösung warten. Es ist gut, wenn ich nicht in der Lage bin, einen Videoclip mit atemberaubenden Filtereffekten anzureichern, weil mein ehrliches Staunen mich nicht kleiner macht, den Schüler aber in seiner Persönlichkeit stärkt und zum Weiterarbeiten motiviert. 

Unsere evangelischen Schulen können Schutzraum und zugleich Experimentierfeld sein und sie sollten dabei die ganze Welt abbilden, die analoge und die digitale. Vor allem aber, um noch einmal auf Paulus zurückzukommen, sollten sie die Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler, ihre Gegenwart und Zukunft, genauso ernst nehmen, wie Paulus das mit den Gemeinden tat, die er besuchte. Und die ist heute digital. 

In diesem Sinne wünsche ich allen Inspiration und Offenheit, unserem gemeinsamen Nachdenken an diesen beiden Fachtagen Mut und Erfolg und uns allen bereichernde Gespräche und nachhaltige Kontakte. 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 


Literaturverzeichnis

Huizing, Klaas: Scham und Ehre. Eine theologische Ethik; Gütersloh 2016.

Rosenstock, Roland: (Safer-)Sexting und Cybermobbing. Scham als religionspädagogische Herausforderung für das medienethische Lernen; erschienen in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, Band 70, Heft 3, S. 262–272. Berlin 2018.

Zierer, Klaus: Lernen 4.0. – Pädagogik vor Technik. Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich; Hohengehren 2017.

www.bibleserver.com, abgerufen am 13.04.2019.

http://www.haz.de/Nachrichten/Medien/Bildergalerien/Die-wichtigsten-Youtube-Stars-in-Deutschland, abgerufen am 01.04.2019.

https://heiup.uni-heidelberg.de/journals/index.php/religions/article/view/23769/17508, abgerufen am 03.04.2019.

https://www.kids-interactive.de/portfolio/zoom-app/, abgerufen am 13.04.2019.

„Durch die Augen eines Schweins“: https://www.youtube.com/watch?v=_pC0_mqmp6w, abgerufen am 03.04.2019. Das Video ist für den Unterricht nicht geeignet, das Beispiel sollte im Vortrag verdeutlichen, wie es möglich ist, mittels digitaler Technik andere Perspektiven einzunehmen, sich einzufühlen, nicht nur hineinzudenken, und so das eigene (egoistische) Handeln zu überdenken. Für den sozial-diakonischen Bereich zu empfehlen – mit einer etwas anderen Blickrichtung, aber einem ähnlichen Ziel, ist die App „A Walk through Demetia“, die es ermöglicht, die Welt zu erleben, wie sie ein Demenzkranker erlebt. Die App ist im PlayStore und im AppStore frei verfügbar. Sehr beeindruckend ist auch „Enter the room“, eine App, die erlebbar macht, wie Krieg Kindheit zerstört.

https://www.vice.com/de/article/9bmz9e/ich-war-eine-woche-in-einer-pro-ana-whatsapp-gruppe-in-der-magersucht-die-religion-ist-392, abgerufen am 03.04.2019. Anmerkung: Diese Seite sei nur beispielhaft genannt. Es gibt unter dem Suchbegriff Pro Ana unzählige Seiten und man gelangt recht unkompliziert auf von Mädchen betriebenen Blogs, auf denen man sich auch emotional ein Bild davon machen kann, was auf diesen Seiten passiert. 

Veröffentlicht von Birgit Hofmann

Lehrerin für Deutsch und Informatik bis 2019, jetzt Referentin für Schulentwicklung in der Evangelischen Schulstiftung in Sachsen, Schwerpunktaufgabe im Moment: Lernen in der mediatisierten Gesellschaft. Meine Frage: Wie kann man trotz der bestehenden Zwänge (z. B. Prüfungsformate) zeitgemäß Bildung gestalten?

2 Kommentare zu „Wohnt Gott jetzt im Netz?

Hinterlasse einen Kommentar

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten